Familien-Werte?

Obwohl sogar das erzkonservative Amerika uneins ist in der Frage der Todesstrafe, halten einige an der Überzeugung fest, dass die Hinrichtung von Mördern die einzige Hoffnung auf inneren Frieden für die Familien der Opfer sei. Karla Napoleon stellt die Frage, ob eine solche "Vergeltungstherapie" in der heutigen Kultur von Gewalt wirksam ist.

Karla Faye Tucker Brown, eine kleine 39-jährige Frau mit schönem gelocktem schwarzen Haar und ausdrucksvollen braunen Augen, war eine fromme wiedergeborene Christin, die unermüdlich mit den Häftlingen des Gefängnisses in Gatesville, Texas, arbeitete. Oh, und noch etwas: Sie war im Todestrakt wegen brutalen Doppelmordes. Um 18.30 Uhr, am 3. Februar 1998, wurde ihr vor den Augen ihres Mannes und dem Bruder eines ihrer Opfer ein Gemisch tödlicher Chemikalien injiziert. Um 18.45 Uhr war sie tot. Zuvor hatte sich der damalige Präsidentschaftskandidat George W. Bush in einem Interview mit Larry King von CNN über Karla's Bitte um Gnade lustig gemacht. "Bitte", hatte Bush sie nachgemacht, indem er die Lippen schürzte, "töte mich nicht." Das ist der Mann, der das Töten von Mördern zu seiner persönlichen Verantwortung erhoben hat - zum Wohle seines Landes. Um es zu einem sichereren Ort zu machen - und um Wahlen zu gewinnen, hat er wie kein anderer Politiker eine Politik verfolgt, die keinerlei Toleranz zuließ, wie an diesen Fakten sehr deutlich wird: Bush wurde 1994 Gouverneur von Texas, und in den Jahren von 1993 bis 1998 wurde nicht einem einzigen der 76 Gnadengesuche stattgegeben. In seiner Regierungszeit wurden unter Bush in Texas mehr als 150 Menschen hingerichtet.

Geboren in Harris County, Texas, konnte Karla Faye Tucker keine geringere als die Todesstrafe erwarten, nachdem sie und ihr Freund Danny Garrett in Jerry Dean's Haus eingebrochen und ihn und seine Freundin Deborah Thornton dort mit einem Hammer und einer Spitzhacke erschlagen hatten. Von der Schule geflogen vor ihrem zwölften Lebensjahr, war Karla als beginnender Teenager bereits heroinabhängig. Mit 15 Jahren reiste sie mit einer Band herum und arbeitete als Prostituierte. Solche Geschichten sind nicht ungewöhnlich für die, die im Todestrakt auf ihren Tod warten, aber sie machen die Schwere ihrer Taten nicht leichter erträglich oder erklären restlos alles.

Zurück nach Großbritannien: Zur Zeit des Falles von James Bulger verwiesen die Medien auf den unterprivilegierten Hintergrund seiner Mörder, Robert Thompson und Jon Venables, doch James' Mutter, Denise Fergus, konnten diese Fakten nicht trösten. Zu dieser Zeit hatte sie das Gefühl, ihren Frieden nur durch den Tod der Mörder finden zu können. Aber jetzt, in einem kürzlich erfolgten Interview mit Martin Bashir, erklärt sie, sie habe einfach nur den Wunsch, die Täter zu treffen und zu fragen, warum sie ihrem Sohn das angetan haben. Schockierende Verbrechen wie dieses und die Ermordung der 8-jährigen Sarah Payne, sie alle entfachen die alte britische Leidenschaft für Rache und Vergeltung. Nach Sarah's Verschwinden schrieb die Zeitung "The Mirror" in ihrem Leitartikel: "Ich wünsche demjenigen, der die kleine Sarah getötet hat, dass er sein Leben lang mit Rasierklingen in den Füßen herumlaufen muss und ständig einen bewaffneten Wächter braucht, selbst wenn er unter die Dusche geht, weil er Angst haben muss, dass ihm jeden Augenblick die Kehle aufgeschlitzt wird. Diese Bastarde zu hängen, ist wirklich viel zu gut für sie."

Warum nimmt man an, es sei akzeptabel, Mörder für ihr krankes und grausames Verhalten in derselben Weise zu bestrafen? Die Frage dieser zwiespältigen Tradition wird noch dazu von vielen verpfuschten Versuchen überschattet. Die blutgetränkte Brust des Angeklagten verstörte eine Zeugin der Hinrichtung von Allen Lee Davies auf dem elektrischen Stuhl von Florida, bis sie bemerkte, dass das Blut sich zur Form eines Kreuzes entwickelte zum Zeichen, dass Gott seinen Tod offenbar billigte. In einer Zeit, in der in Amerika der Druck hinsichtlich der Abschaffung der Todesstrafe wächst (ein Gesetzesvorschlag zur Abschaffung wurde 1999 vorgelegt), weshalb klammert sich ein zivilisiertes westliches Land noch immer an diese äußerste Basis von Vergeltung? Die uralten Gründe, auf die man sich früher gestützt hat, haben sich als falsch erwiesen: Es ist kein Mittel der Abschreckung, und letzten Untersuchungen zufolge soll einer von sieben Hingerichteten unschuldig sein. Ethnische Minderheiten und die Unterprivilegierten sind überrepräsentiert in den Todestrakten im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Das einzige Argument, das bleibt, - nämlich das, mit dem die Befürworter der Todesstrafe an das Mitleid der Leute appellieren - ist die Frage, ob die Todesstrafe der einzige Weg ist, auf dem die Familien der Opfer ihren Frieden finden.

Für Richard Thornton, den Mann von Deborah, konnte diese Form von Gerechtigkeit nicht früh genug kommen. "Ich habe nichts als Mitgefühl und Mitleid für ihre [Karla's] Familie", sagte er. "Sie machen nun das durch, was wir durchgemacht haben. Meine Religion fordert mich auf zu vergeben, die andere Wange hinzuhalten. Ich bin kein perfekter Mensch. Ich habe es wirklich versucht - ich kann es nicht. Ich glaube nicht an ihr Christentum. Ich glaube nicht an ihre Bekehrung. Ich habe es niemals geglaubt, und ich werde es niemals glauben." Ronald W. Carlson jedoch, der Bruder von Deborah, brachte den Mut auf, Karla im Gefängnis zu besuchen. Als Mörderin und Opfer sich trafen, begann Karla zu schluchzen und konnte ihn nicht ansehen. Ronald hat Karla vergeben und wurde ihr Freund, eine Freundschaft, die ihren Höhepunkt darin fand, dass er sie als einer der Zeugen begleitete, als sie auf die Liege festgeschnallt wurde, um getötet zu werden. "Politik ist die eine Sache", sagt er in seiner Website, die der Erinnerung von Karla gewidmet ist, "aber menschliches Leben ist eine andere. Das sind völlig verschiedene Aspekte, und man sollte sie nicht vermischen. Nicht in meinem Namen!"

Das ist hart zu schlucken für das amerikanische Ideal. Familien von Opfern werden als anormal angesehen, wenn sie nicht nach Blut dürsten. Im Falle der Pädophilen-Lynch-Versuche in Portsmouth letztes Jahr waren es nicht die Opfer, die nach Rache schrieen, sondern der Pöbel. Renny Cushing, der leitende Direktor von "Murder Victims Families for Reconciliation" (MVFR), einer Gruppe, die für die Abschaffung der Todesstrafe eintritt, richtet seinen Blick mehr auf die konkreten menschlichen Gefühle, nicht auf die der Massen. Renny, dessen Vater in seinem eigenen Wohnzimmer erschossen wurde, sagt: "Meine Überzeugungen zu ändern, weil mein Vater ermordet wurde, würde lediglich den Mördern mehr Macht geben. Sie würden mir nicht nur meinen Vater nehmen, sondern darüber hinaus auch noch meine Werte und Überzeugungen."

Gabi Uhl, eine Musiklehrerin aus der Nähe von Frankfurt, Deutschland, kennt ebenfalls die Ungerechtigkeit und den Schmerz dieser Erfahrung, wenn ein Freund getötet wird. Ihr Freund allerdings war Clifford Boggess, im Todestrakt von Texas wegen zweifachen Mordes während zweier verschiedener Raubüberfälle. Wenn Gabi sich an ihren Eindruck von Cliff während ihres ersten Besuches in Huntsville, Texas, erinnert, klingt das irgendwie klischeehaft:

"Der Mensch, der mir dort begegnete, machte auf mich einen außerordentlich sanften und mitfühlenden Eindruck - kaum vorstellbar, dass dies derselbe Mann sein sollte, der elf Jahre zuvor auf brutale Weise zwei Menschen getötet hatte." Fremde, die enge Freunde von verurteilten Mördern werden, verärgern diejenigen, deren Mitgefühl vor allem auf der Seite der Opfer liegt. Wäre sie Cliff gegenüber ebenso liebevoll und mitfühlend, wenn er ihre Mutter ermordet hätte? Aber Gabi bekräftigt, dass sie niemals die Familien von Cliff's Opfern vergessen hat. "Wenn ich in ihrer Situation wäre, würde ich wohl dasselbe fühlen: Ich kann mir die Wut vorstellen, die ich dem Täter gegenüber hätte, und vielleicht würde ich mir wünschen, ihn sterben zu sehen, um meinen Wunsch nach Vergeltung zu befriedigen."

Wie Karla Faye Tucker und fast alle anderen Häftlinge im Todestrakt, folgte Cliff's Leben einem fast vorherbestimmten Weg. Sein frühes Leben war alles andere als ideal. Nachdem er von einem Waisenhaus zum nächsten weitergereicht wurde, gerieten seine Versuche, sich ein eigenes Leben aufzubauen, schnell außer Kontrolle. In seinen eigenen Worten erklärte er, was passierte: "Ich begann eine ausgesprochen selbstzerstörerische Sauf- und Drogentour, die mich 65 Tage später ins Gefängnis brachte, verdächtigt (und schuldig) zweier Morde." Ebenso wie Karla Faye Tucker, hatte Cliff zu Gott gefunden, und einige seiner Zeichnungen vom Todestrakt wurden ausgestellt.

Er ließ eine Notiz in die Lokalzeitungen der Orte setzen, in denen er seine Verbrechen verübt hatte: "Niemand trägt die Schuld als ich allein. Niemand hat mich an diesen Ort gebracht als ich selbst. Ich habe schreckliche Entscheidungen getroffen in meinem Leben und entsetzliche Dinge getan. Es tut mir leid. Ich bitte jeden einzelnen von euch aufrichtig um Vergebung. ... Mein Herr und Retter Jesus Christus hat mir vergeben, aber ich verstehe, dass ihr es nicht könnt. ... Ich werde hingerichtet werden am 11. Juni. Ich hoffe und bete, dass euch dies etwas Frieden bringt." In den Augen von Psychologen zeigt diese anmaßende Haltung und sein Glaube, er würde im Himmel der Freund seiner Opfer werden, wahrscheinlich psychopathische Tendenzen, aber Gabi würde Cliff als einen ihrer engsten Freunde einstufen.

Wie Ronald W. Carlson, sah Gabi ihren neuen Freund sterben, festgeschnallt auf der Liege, nur in der Lage, den Kopf ein wenig zu drehen. Die Sinnlosigkeit dieses Geschehens ging ihr durch den Kopf. Da stehen Menschen in vollem Bewusstsein bereit, einen anderen Menschen zu töten im Namen von Strafe und Vergeltung. Cliff's Lächeln ihr gegenüber wurde von den Familien der Opfer so aufgenommen, dass Cliff es zu einfach gehabt habe und seinen Tod nicht ernstgenommen hätte.

Die Erfahrung hat Gabi gelehrt, dass Familien auf diesem Weg keine Befriedigung finden. "Ich bezweifle, dass die Hinrichtung des Mörders für die Angehörigen der Opfer wirklich den Schmerz beendet und den Frieden bringt, den sie sich erhoffen. Nichts kann den Schmerz und die Trauer wegnehmen - nicht einmal Cliff's Tod. In meinen Augen hat Cliff's Tod nur neuen Schmerz und neuen Kummer hervorgebracht." Sechs Monate nach Cliff's Hinrichtung sah Gabi die Enkelin eines der Opfer in einer TV-Dokumentation, die - in Gabi's Worten - "noch denselben Hass im Herzen zu haben schien".

Pat Bane von MVFR vertritt dieses Prinzip von ganzem Herzen. Pat, dessen Onkel ermordet wurde, erklärt in einem Artikel ("Familien von Mordopfern ist mit einem anderen Tod nicht gedient"): "Wenn eine Familie die Nachricht erhält, dass einer ihrer geliebten Menschen ermordet wurde, befinden sie sich in einem Stadium des Schocks. Unglaube und Verleugnung ebnen den Weg zu Wut, und das ist eine ganz normale Reaktion auf einen Mord. Wir sollten zornig sein, wann immer Gewalt ein Menschenleben fordert." Pat erklärt die Notwendigkeit von Unterstützung der Opfer und Beratung hinsichtlich einer Umstrukturierung, sodass nicht nur Vergeltung eine Möglichkeit ist, sondern Hoffnung und Liebe stattdessen angeboten werden. "Wenn sie so verzweifelt nach einer Hoffnung suchen, die sie durch eine sehr schmerzvolle Zeit tragen soll, wird den Familien der Opfer ein neuer Tod angeboten." Statt des erhofften Friedens kann es viele ungünstige Auswirkungen haben, sich die Hinrichtung des Täters anzusehen. Es können alte Wunden wieder aufgerissen werden in Erinnerung an den geliebten Menschen, und manche kommen nicht damit zurecht, dass in ihrem Namen ein weiterer Mensch sein Leben verloren hat.

Auge um Auge - ein "Mantra", zitiert als Rechtfertigung für Mord. Warum wünscht Großbritannien zu dieser schmerzhaften Lage zurückzukehren? Verhindert man damit, dass die Mörder anderen noch weiteren Schmerz zufügen können? Sicher. Aber hilft es tatsächlich den Familien der Hinterbliebenen? Wir werden niemals Frieden finden, wenn wir Gewalt mit Gewalt beantworten. Müssen Mörder gefoltert werden, bevor Familien zufrieden sind? Dem niemals endenden Zyklus von Hass und Bitterkeit kann man auf diese Weise nicht entkommen. Wir sollten von den Vereinigten Staaten lernen und von den Leuten, die tatsächlich von diesen Fragen betroffen sind, über die wir so beiläufig reden. Renny Cushing: "Ich bin gegen die Todesstrafe, weil ich im Grunde nicht glaube, dass sie jemandem hilft, weder dem Einzelnen noch der Gesellschaft. Es geht mir dabei nicht so sehr darum, was mit den Mördern geschieht. Ich bin gegen die Todesstrafe wegen dem, was sie dem Rest von uns antut."

Karla Napoleon

Februar 2001

*****

Englische Originalfassung des Artikels

*****

ZURÜCK