Todeskandidaten im Internet - auf einer Homepage in Texas kann alle Welt fast alles über sie erfahren.

Sie sind absolut rechtlos

Von GÜNTHER HÖRBST

Wer im weltweiten Datennetz Internet stöbern will, muss ein dickes Fell mitbringen. Denn so segensreich diese Technik der millionenfach vernetzten Computer für den Informationsaustausch ist, so makaber und abstoßend sind mitunter die Netzinhalte. Die befremdlichen Informationen finden sich allerdings mitunter dort, wo man sie kaum vermuten würde. Internet-Surfer, die sich beispielsweise über das Thema Todesstrafe informieren wollen, haben gute Chancen, auf der offiziellen Seite des "Texas Departement of Criminal Justice" (www.tdcj.state.tx.us) zu landen. Der Bundesstaat hält in den USA einen traurigen Rekord an Hinrichtungen.

Im Staatsgefängnis von Huntsville sollte am Donnerstag John Paul Penry als 37. Kandidat in diesem Jahr mit der Todesspritze hingerichtet werden. Doch das Oberste Gericht der USA in Washington hat den texanischen Gouverneur und republikanischen Präsidentschaftskandidaten George W. Bush angewiesen, die Hinrichtung des geistig behinderten Penry aufzuschieben. In der vergangenen Woche sind mit den Schwarzen Stacey Lawton und Tony Chambers gleich zwei Mörder hingerichtet worden. Für die nächsten Wochen sind mindestens drei weitere Exekutionen geplant. Der Rekord aus dem Jahr 1997 mit 37 Exekutionen wäre damit übertroffen.

Über diese Exekutionen und vor allem die Todeskandidaten stellt das "Texas Departement of Criminal Justice" auf ihrer Homepage weitere Informationen zur Verfügung. Und die stellen europäische Vorstellungen von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten auf den Kopf. Denn wer in Texas im Todestrakt stirbt, verliert nicht nur sein Leben, sondern auch seine Privatsphäre. Interessierte Surfer erfahren so ziemlich alles über die Todeskandidaten und die bereits Verblichenen.

Wer die Homepage angeklickt hat, kann etwa die letzten Worte aller 236 Delinquenten seit Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 nachlesen. Das mag vielleicht noch einen Sinn haben: Schließlich erfährt die Weltöffentlichkeit so von manch rührender Bitte um Vergebung oder verzweifelter Beteuerung der Unschuld. Es gibt aber auch eine Liste jener, die demnächst gerichtet werden sollen. Der Blick in diese Liste macht Schaudern: George W. Bush bleibt nämlich seiner harten Linie treu. Sein Bundesstaat wird aller Voraussicht nach einen neuen Todes-Rekord aufstellen: Am 15. November starb mit Tony Chambers in diesem Jahr der 37. Mensch im Gefängnis von Huntsville durch die Giftspritze.

Eine Kopie der Polizeiakte - nur zwei Mausklicks entfernt - verrät, dass es einen gewissen Daniel Joe Hittle, 50 Jahre alt, aus Perry/Indiana, treffen wird, der am 6. Dezember als 40. und letzter Mensch in diesem Jahr in Texas umgebracht werden soll.

Diese "Keine-Gnade-Politik" findet in Amerika aber nicht mehr uneingeschränkte Zustimmung. Denn Studien haben kürzlich erhebliche Mängel im amerikanischen Justizsystem aufgedeckt. Die Columbia-Universität in New York beispielsweise hat 5760 Todesurteile untersucht, die bis 1995 vollstreckt wurden. "Zwei Drittel", sagte Studienleiter James Lieberman, "wiesen so viele Fehler auf, dass sie vor einem Berufungsgericht keinen Bestand mehr hatten." Viele davon wurden allerdings trotzdem vollstreckt. Vor allem von Gouverneur Bush: Die Zeitung "Chicago Tribune" ermittelte, dass unter seiner Verantwortung 23 Menschen nur deshalb exekutiert wurden, weil ein Zellennachbar vor Gericht aussagte, der Angeklagte habe ihm gegenüber die Tat gestanden.

Auch Richard Wayne Jones beteuerte - schon festgeschnallt auf der Todespritsche - seine Unschuld. Es hat ihm nichts genützt. Am 22. August 2000 wurde er hingerichtet. Zuvor, verrät die Homepage, ließ er sich eine reichhaltige Henkersmahlzeit schmecken: zwei Sandwiches mit Schinken, Tomaten, Käse und Mayonnaise, dazu drei durchgebratene Hühnchenbrustfilets, Pommes frites mit Ketchup sowie einen Erdbeer-Milchshake. Was soll das? Welchen Nutzen sollen solche Informationen haben?

Doch nicht nur die sehr weite Auslegung der Persönlichkeitsrechte der Verstorbenen irritiert. Die Texaner versorgen den Homepage-Besucher mit allerlei weiteren Informationen. Ein beklemmendes Gefühl kommt etwa auf, wenn die Behörde unter dem Stichwort "Death Row Facts" die drei chemischen Bestandteile der Gift-Injektion samt ihrer Wirkungen auflistet und darunter trocken vermerkt: "Kosten für Drogen pro Exekution: 86 Dollar und acht Cents."

Texas ist übrigens kein Einzelfall. Noch auskunftsfreudiger zeigt sich der "Sonnenschein-Staat" Florida, wo George W. Bushs Bruder Jeb als Gouverneur regiert. Auf der Internet-Seite des "Florida Departement of Corrections" (www.dc.state.fl.us) sind ebenfalls Fotos und Lebensläufe der Todeskandidaten sowie allerlei Zusatzinfos aufgelistet, wie Fotos der Todeszellen, die Essenszeiten der Häftlinge oder die Kosten der Henkersmahlzeit: " . . . nicht mehr als 20 Dollar." Wer noch mehr Hintergrund über die zum Tode Geweihten haben will - etwa Einsicht in Gerichtsakten - kann diese Informationen unter einer angegebenen Telefonnummer oder E-Mail-Adresse anfordern. Die Begründung für die Offenheit: "Diese Informationen werden im Interesse der öffentlichen Sicherheit zugänglich gemacht."

Die hessische Studienrätin Gabriele Uhl hat eine Hinrichtung im Todestrakt des Gefängnisses von Huntsville/Texas erlebt und hatte sich mit einem inzwischen exekutierten Häftling angefreundet. Sie sieht den Internet-Auftritt skeptisch. "Mir hat ein Häftling geschrieben", erzählt Uhl, "selbst wenn er je seine Unschuld beweisen könnte, blieben die Vorwürfe, die jeder im Internet über ihn lesen könne, an ihm hängen. Doch auch für die Schuldigen gilt: Bei diesen Websites handelt es sich um einen groben Verstoß dessen, was wir bei uns als Datenschutz bezeichnen." Und Uhl ergänzt: "Dies spiegelt aber genau das Menschenbild wider, das man in Texas von Todeskandidaten hat: Sie sind absolut rechtlos."

Dass viele Amerikaner eine sonderbare Haltung zur Todesstrafe haben, zeigt auch ein Spielzeug. Seit Juli vertreibt die Firma McFarlane Toys aus Arizona die Puppe "Death Row Marv" ("Todeskandidat Marv"). Sie sieht zum Fürchten aus, hat Ähnlichkeit mit dem Monster Frankenstein. Mit dicken Lederriemen ist Marv auf einen elektrischen Stuhl gefesselt. Legt man einen Hebel um, ballt er die Fäuste, der Körper bäumt sich auf, die Augen leuchten rot. Marv brüllt: "Ist das alles, Ihr Schwuchteln?" Für 52 Mark ging die 15 Zentimeter große Puppe bereits hunderttausendfach über die Ladentische. Und wer glaubt, dies sei etwas für kranke Erwachsene, irrt. Die empfohlene Altersgrenze auf der Verpackung lautet: "Ab 13".

© 18.11.2000 Hamburger Abendblatt Online

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